Pfadfinder auf dem Irrweg
von Manfred Bartl
Wenn Sie einen Sonnenurlaub planen und das Reiseziel Spanien ins Auge gefasst hätten, würden Sie dann einen Anti-Reiseführer wie „Irrweg Spanien-Reise“ oder „Albtraum-Urlaubsland Spanien“ zur Hand nehmen? Selbst wenn Sie ein solches Buch durchblättern würden, würden Sie es kaufen, wenn drei Viertel des Inhalts dem Spanien nur ähnlichen Urlaubsland Italien und sogar Deutschland gewidmet wären und dem Umstand, dass es hier wie dort angeblich auch nicht gerade toll ist? Wenn die Autoren schließlich zugeben müssten, dass sie selbst nie in Spanien waren, sondern lediglich Hörensagen von Möchtegern-Spanien-Touristen fachmännisch kommentieren? Wenn als Fazit der Autoren herauskommt, dass ein Urlaub im Süden schon irgendwie cool wäre, man aber gar nicht in den Süden und erst nicht nach Spanien reisen müsste, wenn man nur Deutschland Italien ähnlicher machte, weil es dann auch wie Spanien wirken würde?
So stand ich vor dem Buch „Irrweg Grundeinkommen. Die große Umverteilung von unten nach oben muss beendet werden“ von Heiner Flassbeck, Friederike Spiecker, Volker Meinhardt und Dieter Vesper. An wen richtet sich dieses Buch eigentlich?
Während der Buchtitel das Grundeinkommen thematisiert, nimmt es von rund 200 Seiten Text nur rund 80 Seiten ein – zumindest nominell nach Inhaltsverzeichnis; reell sind es mit rund 50 Seiten noch weniger!
Statt die volkswirtschaftliche Analyse der „großen Umverteilung von unten nach oben“ vorwegzunehmen und Grundlagen zu schaffen für sowohl die von den Autoren präferierten Konzepte als auch das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) und dessen kritische Würdigung, wird kurz eine Grundeinkommensidee vorangestellt, dann schon das bedingungslose Grundeinkommen vorzeitig abgehandelt, bevor die „große Umverteilung“ ausgebreitet wird, um abschließend lediglich schlaglichtartig auf vermeintliche Grundeinkommenskernideen einzugehen, ohne sie jedoch im Licht der „großen Umverteilung“ zu reflektieren.
Während der Buchtitel das Grundeinkommen als Irrweg bezeichnet, machen die Autoren sich mittels ihres Untertitels mit den hegemonialen Zielen der Grundeinkommensbefürworter im Hinblick auf eine Teilhabe Aller garantierende Grundverteilung gemein.
Während die „große Umverteilung von Arm zu Reich“ der letzten 30 Jahre sehr ausführlich analysiert wird, wofür die Autoren auf zahlreiche eigene Arbeiten zurückgreifen können, machen sich die Autoren zum bedingungslosen Grundeinkommen so gut wie keine eigenen Gedanken. Sie machen sich die Idee der Grundeinkommensbefürworter nicht zu eigen, um sie aus einem nachvollziehbaren und ihrem – wie ich dick unterstreichen möchte – überaus kompetenten Blickwinkel zu kritisieren.
Schlimmer noch: Obwohl die vier Kriterien des Netzwerks Grundeinkommen e. V. zur Definition und Abgrenzung von Grundeinkommens- und Grundsicherungsmodellen anstandslos herangezogen und somit als hegemonial anerkannt werden, greifen die Autoren willkürlich in die Modellkiste und nehmen für ihre Betrachtungen neben dem „Emanzipatorischen Grundeinkommen“ der Bundesarbeitsgemeinschaft Grundeinkommen in und bei der Partei DIE LINKE von Stefan Wolf und den – schon grundverschiedenen – Eckpunkten für ein bedingungsloses Grundeinkommen von Götz Werner mit dem „Solidarischen Bürgergeld“ von Dieter Althaus und Hermann Binkert auch ein lediglich partielles Grundeinkommensmodell auf, das die vier Kriterien bei Weitem nicht (vollständig) erfüllt. Im Rahmen einer theoretisch fundierten Grundeinkommensanalyse wäre dieser Schritt wünschenswert und auch ein Vergleich mit der Grundsicherung (für Arbeitslose) „Hartz IV“ unproblematisch, dessen einzige Übereinstimmung mit dem Grundeinkommensprinzip die Leistungszahlung am Monatsanfang ist. Bei der eher anekdotisch strukturierten Herangehensweise der Autoren aber muss der Leser bei jeder Erwähnung eines „Grundeinkommens“ (als solchem) auf den folgenden Seiten eine Fallunterscheidung vornehmen, ob das Gesagte für jedes der drei herangezogenen Modelle gleichermaßen oder tatsächlich für „das Grundeinkommen an sich“ gilt oder aber für Modellgruppen oder gar nur für ein einzelnes der genannten (oder aller) Grundeinkommensmodelle. Die für „das Grundeinkommen“ attestierte „Tendenz zur Autarkie“ etwa ist dem Althaus-Modell nicht nachzuweisen, ohne dass darauf hingewiesen werden würde.
Die Berücksichtigung des Althaus-Modells zieht auch an anderer Stelle ein Problem nach sich, wenn die Autoren dem Althaus-“Grundeinkommen“ einen „Kombilohn-Charakter“ attestieren (den „die Autoren dieses Buches rundherum ablehnen“, S. 74), womit sie dem Althaus-Modell jedoch nicht gerecht werden. Kein gängiges Grundeinkommensmodell (mit Auszahlungsbetrag im Gegensatz zu Modellen Negativer Einkommensteuer) erfüllt die hinreichende Bedingung für eine Bewertung als Kombilohn; gemeint ist der Kombilohn-Effekt, der als Marktvorteil des mit staatlichen Transfers aufgestockte Löhne zahlenden Arbeitgebers gegenüber einem anderen, „nackte“, am Markt erzielte Löhne zahlenden zutage tritt. Dieser Effekt kann gar nicht zur Geltung kommen, wenn ausnahmslos alle Löhne mit einem Grundeinkommensbetrag unterfüttert sind! (Auf der anderen Seite mögen neoliberale Pseudo-Ökonomen noch sehr sehr beteuern, ein Kombilohn habe beschäftigungsfördernden Einfluss, die Analyse von Flassbeck et al., mit der Kombilohn-Modelle als gegen das Konzept der Guten Arbeit gerichtete Abwärtsspirale identifiziert werden, ist doch stichhaltiger.)
Während Grundeinkommensbefürworter beim BGE an Freiheit und Selbstbestimmung denken, nehmen Flassbeck et al. vor allem eine Gefahr wahr, die Gefahr einer Tendenz zur Autarkie. Sie meinen damit einen Rückgang des erreichten Grades an Arbeitsteilung innerhalb der Wirtschaft und eine damit einhergehende Senkung des erreichten Wohlstandsniveaus. Mich hat das auf zweierlei Art befremdet.
Erstens ist Autarkie ein ausgesprochen positiv belegter Begriff; ihn der ebenfalls positiv belegten Arbeitsteilung als negativen Kampfbegriff entgegenzusetzen, ist sowohl unnötig als auch ungeschickt. Autarkie bedeutet nicht etwa zu leben wie Robinson Crusoe auf der einsamen Insel, sondern perfekt nachhaltige Selbstversorgung des Kollektivs in einem futuristischen Generationenraumschiff Richtung Alpha Centauri.
Zweitens ist nicht der Grad an Arbeitsteilung das Problem, sondern die zunehmende Entfremdung, und dieser steht nicht die Autarkie entgegen, sondern „das Bestreben, eine Tätigkeit um ihrer selbst willen gut zu machen“ (so Richard Sennett in „Handwerk“) oder Gemeinschaften mit Freunden, Kollegen und Nachbarn zu intensivieren. Eine Illustration des Erstgenannten verschaffte ich mir während eines Uniklinikaufenthalts, wo ich eine Reinigungskraft zu ihrem beruflichen Schicksal interviewte. Während sie von der Universitätsmitarbeiterin zu einer Mitarbeiterin einer Uni-Abteilung und weiter zur Mitarbeiterin eines outgesourceten Betriebes, erst im Reinigungsbereich, dann im Bereich Dienstleistungen aller Art, durchgereicht wurde, nahmen nicht nur ihre gesellschaftliche Stellung und ihr Gehalt ab, sondern auch ihre Handlungssouveränität. Statt hygienisch optimiert zu reinigen, ist ihre aktuelle Vorgabe lediglich, ein bestimmtes, extern unter betriebswirtschaftlichen Kriterien vorgegebenes Räume/Zeiteinheit-Soll zu absolvieren! Mit Guter Arbeit und Selbstverwirklichung – oder auch nur gelungener Arbeitsteilung – hat das nicht mehr das Geringste zu tun! Mit einem BGE hätte jedem dieser Schritte die kopfschüttelnde und damit endgültige Ablehnung der Beschäftigten entgegengestanden.
Das Argument geht, wie gesagt, noch weiter: Die Tendenz zur Autarkie würde den Grad an Arbeitsteilung senken, damit das erreichte Wohlstandsniveau und zugleich auch die Bemessungsgrundlage für das Grundeinkommen. Während ich tatsächlich annehmen möchte, dass die Arbeitsteilung im von den Autoren geschilderten Beispiel des „Do it yourself“-Fliesens des Badezimmers abnehmen mag, wenn jemand als „Allround-Talent“ das machen möchte, nimmt andererseits der gesamtgesellschaftliche Wohlstand jedoch nicht ab, er wird nur anders zwischen Geld und Glück verteilt. Umgekehrt investieren natürlich alle Wirtschaftssubjekte (mindestens!) ihre (nominell) 1000 Euro Grundeinkommensbetrag Monat für Monat mit dem Resultat steigender Binnennachfrage in eben jenen arbeitsteiligen Markt, auf dem diese Effekte sich etwa neutralisieren werden – und zwar inklusive einer auch von Flassbeck et al. präferierten konjunkturell bedingten Zunahme guter und gut bezahlter Job in den davon profitierenden, alltäglich-konventionellen Sektoren des Wirtschaftstreibens, in denen wiederum just jene Menschen arbeiten, die aufgrund ihrer geringeren Allrounder-Fähigkeiten und des angeblich sinkenden Wohlstandsniveaus noch geringere Aussichten auf Beschäftigung haben sollen als ohne BGE. Sollte in der Summe eine Abnahme des monetären Wohlstands zu verzeichnen sein, ist zu bedenken, dass es sich wenn überhaupt um eine Reduzierung des Wohlstandsniveaus von oben handelt, Einbußen sich also allenfalls weit oberhalb des Teilhabeminimums bemerkbar machen. Dies entspricht aber einer Rückforderung des Preises, den die bisherige Entfremdung gekostet hat, in Gestalt von hinzugewonnenem Lebensglück durch entweder sinkende Arbeitslosigkeit oder steigende Zufriedenheit mit eigener Hände Arbeit oder beides bei denen, denen die „große Umverteilung“ dies zuletzt verweigerte.
Bei der Annahme negativer Auswirkungen auf die Bemessungsgrundlage des Grundeinkommens bei kleiner werdendem „Kuchen“ handelt es sich meines Erachtens um einen Denkfehler. Wenn der zur Verteilung anstehende „Kuchen“ kleiner würde, bedeutete dies noch lange nicht, dass dem Verteilungsmodus Grundeinkommen weniger zur Verfügung stünde, im Gegenteil: Wie auch bei Wirtschaftskrisen, in denen der „Kuchen“ ebenfalls kleiner wird, gäbe es auch in dieser Situation keine Veranlassung zuzulassen, dass der für die soziokulturelle Mindestteilhabe vorzusehende Anteil in absoluten Werten geringer wird, also Teilhabeengpässe zugelassen werden, während anderswo noch beliebig über dem Teilhabeminimum konsumiert wird. Wenn der „Kuchen“ kleiner wird, wird das BGE-Stück eben vergrößert. Nichts anderes hört man in Wirtschaftskrisen von Flassbeck et al., denn diese Vorgehensweise leistet dasselbe wie kontrazyklische Konjunkturbelebung.
Diese Art der Beschäftigung mit dem bedingungslosen Grundeinkommen vermisse ich im vorliegenden Buch am meisten. Wenn man bedenkt, dass all mein volkswirtschaftliches Know-how von Albrecht Müller und den von ihm auf den NachDenkSeiten in den Fokus gerückten vernünftigen, kritischen Ökonomen und Journalisten stammt, von Heinz-J. Bontrup, Rudolf Hickel, Axel Troost, Gustav Horn, Lucas Zeise, Ulrike Herrmann u. a. und eben auch von Heiner Flassbeck, dann wundert es mich, dass ausgerechnet Flassbeck et al. nicht auf die Idee kommen, das bedingungslose Grundeinkommen nicht als bloßen Auszahlungsbetrag in einer Konformation gewöhnlicher Sozialer Marktwirtschaft zu verstehen, sondern als eigenständige Wirtschaftskonformation.
Besonders irritiert mich, dass Flassbeck et al. das Grundeinkommen stets als Umverteilung referenzieren, bzw. dort, wo sie anderes andeuten, doch wiederum ganz andere Aspekte anreißen. Beispielsweise springt dem Leser auf Seite 14 die Kapitelüberschrift „Grundeinkommen als Verteilungsersatz?“ ins Auge. Statt dies anhand „eine[r] Art dritter Weg“ ernsthaft zu diskutieren, wird der Ansatz diffamiert als strebe er eine „sozusagen unabhängig von der an den Märkten erzielten (Primär-)Einkommensverteilung geschaffene positive materielle Ausgangsposition für alle Mitglieder der Gesellschaft“ an. Wieso unabhängig? Ich frage mich, ob die Autoren die Primärverteilung richtig einschätzen. Die „am Markt“ erzielte Primärverteilung, also die Primärverteilung im eigentlichen Sinne des Wortes ist zunächst tatsächlich das, was den Ertrag der einzelnen Unternehmen am Markt ausmacht, also ihre Wertschöpfung. Der Begriff wird anschließend ausgedehnt auf die Verteilung der Kaufkraft an seine jeweiligen Kapitaleigner und Arbeitskräfte, die von jedem Unternehmen selbst organisiert wird. Dieser zweite Schritt der vorrangigen Verteilung ist zwar das, was man gewöhnlich unter Primärverteilung versteht, nur wird diese Verteilung nicht (wirklich) am Markt erzielt! Wie sie erzielt wird, stellen Flassbeck et al. selbst auf ausgesprochen kritische Weise im vorliegenden Buch (S. 63 f) dar: „Nur das Marktergebnis [des Unternehmens] insgesamt ist feststellbar, zu dem alle [seine] Angestellten (…) beigetragen haben. Deren Entlohnung zusammengenommen darf nicht so hoch sein, dass das Endprodukt [des Unternehmens] nicht mehr wettbewerbsfähig ist gegenüber der Konkurrenz. Über die Aufteilung der Einnahmen aus dem Verkauf des Endprodukts sowohl zwischen der Kapitalseite und der Arbeitnehmerseite als auch zwischen den Arbeitnehmern untereinander besagt das jedoch nichts.“ Auf der nächsten Seite wird die Idee einer „Messung der Produktivität der einzelnen Tätigkeiten – von der Reinigungskraft über den Kundenberater bis zum Vorstandsvorsitzenden – [Einschub von S. 63] in Geldeinheiten“ als „Schwachstelle der Argumentation der Mindestlohngegner“ entlarvt, „das heißt, dass eine in Geldeinheiten (statt [z. B.; Anm. MB] in Tonnen) ausgedrückte Produktivität der Arbeiter keine rein technische Größe ist, sondern von der Marktlage abhängt“. Und „auch [im Falle der Lohnbestimmung über die Knappheit einer spezifischen Arbeitskraft am Markt] hätte der Lohn nichts mit der Produktivität der Arbeitskräfte (…) zu tun“ (S. 65). In anderen Worten: Die angeblich rein vom Marktgeschehen bestimmte Primärverteilung der Kaufkraft hängt sehr stark von der gesellschaftlichen Kräfteverteilung (Tarifverträge) und der Machtsituation im Unternehmen (Arbeitnehmermitbestimmung vs. „kreative“ Konzernkonstrukte ersinnende Unternehmer) ab!
Warum also kommen Flassbeck et al. nicht auf die Idee, das Grundeinkommen als Teil der Primärverteilung, quasi als primordiale Primärverteilung, oder gar als Primärverteilung neuen Typs zu denken, mit der die Verteilung der Kapitalerträge und Löhne als Sekundärverteilung nachrangig gemacht und die Umverteilung – ihrer neuen Größenordnung nach angemessen – weiter in den Rang einer Tertiärverteilung degradiert werden würde? Tatsächlich klingt diese Relation auf Seite 200 in bis zu diesem Punkt unverhohlener Eindeutigkeit an: „Ein Grundeinkommen [in einer Größenordnung von einer Billion Euro] bedeutet allerdings, dass ein Drittel der Gesamtproduktion der Volkswirtschaft schon verteilt wäre, bevor es produziert ist.“ Das ist der Grund, warum das bedingungslose Grundeinkommen auch als „garantierter Mindestumsatz“ bezeichnet wird, denn die Güter der soziokulturellen Mindestteilhabe werden ganz unzweideutig produziert werden müssen! Statt in dieser volkswirtschaftlich korrekten Reihenfolge die Konsequenzen des Handelns in der Wirtschaftskonformation Grundeinkommen zu analysieren, geben die Autoren zu bedenken, dass nicht alle Erwerbspersonen gleichzeitig der angebotenen Arbeitszeitverkürzung nachkommen dürften, obwohl die den Autoren zufolge einzig konjunkturwirksame Nachfrage in den bislang einkommensschwachen Schichten stark ansteigt und somit auch eine boomende Nachfrage nach Arbeitskräften, die besonders im Bereich dieser Nachfrage stillenden Wirtschaftszweige bislang arbeitslos gemeldet waren und somit einen starken Anreiz erhalten, sich wieder aktiv und wertgeschätzt in die Wirtschaft einzubringen. Selbst wenn die Menschen das „Angebot“ zur Arbeitszeitverkürzung überproportional stärker in Anspruch nehmen, als es der heutigen Wirtschaftsproduktion zuträglich wäre, so unterschlagen die Autoren die Zuträglichkeit genau dieses Effekts zum Abbau der Massenarbeitslosigkeit. Dies ist umso unverständlicher, als Flassbeck et al. sich im Mittelteil des Buches bei ihrer Analyse der „großen Umverteilung von unten nach oben“ überdurchschnittlich engagiert dem Schicksal der ökonomisch in den Hintergrund und gesellschaftlich ins Abseits gedrängten Arbeitslosen und Erwerbslosen widmen.
Das bedingungslose Grundeinkommen der gleichnamigen Wirtschaftskonformation könnte gestemmt werden durch eine Wertschöpfungsabgabe auf den wirtschaftlichen Erfolg der Unternehmen. Das Konzept wurde ursprünglich bekannt als „Maschinensteuer“ zur Bevorzugung menschlicher Arbeitskraft gegenüber maschineller (also kapitalintensiver) Produktion, ein Minimalanreiz mit allerdings wettbewerbsentscheidenden Übergewichten bei den „Handwerkern“. Mit der Wertschöpfungsabgabe in einer Größenordnung, die geeignet wäre, ein BGE zu finanzieren, ließe sich in der Tat ein solches Bonus/Malus-System kombinieren, das diesem und anderen steuernden Zwecken dienen könnte. Die Abschöpfung von etwa einem Drittel bis zur Hälfte der Wertschöpfung würde das – von den Autoren propagierte – „Primat der Primärverteilung“ erheblich bekräftigen und den Gestaltungsspielraum der Unternehmen bei der machtabhängigen internen Kaufkraftverteilung von Kapitalerträgen und Löhnen einschränken und zugunsten der Arbeitnehmerseite und unter jenen besonders zugunsten der bis dahin als Geringverdiener missachteten Arbeitskräfte nivellieren und somit ein zusätzliches Maß an Gerechtigkeit zum Gesamtergebnis hinzu addieren. Tatsächlich beweist das Kapitel „Das Primat der Primärverteilung“ ab Seite 202, dass den Autoren die marktgerechte Kaufkraftverteilung, die sie heute für „grundlegend falsch“ halten, sehr wohl wichtig ist. Sie schreiben darin jedoch von einer „Sekundärverteilung à la Grundeinkommen, also quasi ein[em] Vorziehen des Sekundärteils des Einkommens, auf den dann das Primärteil ohne weitere Änderung aufsetzt“, beschreiben das Grundeinkommen also korrekterweise als Primärverteilung, denken es jedoch weiterhin als Sekundärverteilung, als quasi unverdient einkassiertes Almosen von einem es gar zu gut meinenden Staat. Die entscheidende Idee des Grundeinkommens ist aber gerade, dass dem Menschen das, was ihm kraft seines Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums zukommt, bedingungslos zusteht, bevor er daran gehen muss oder kann, etwas hinzuzuverdienen. Leider ist das Kapitel nur zwei Seiten lang und gewährt keinen Ausblick auf die volkswirtschaftlichen Auswirkungen von Grundeinkommen als Primärverteilung. Stattdessen wird nur die Betrachtung Arbeitsteilung = Wohlstand wiederholt und „Autarkie“ mit einem irrigerweise als total verstandenem Ausklinken aus der Arbeitsteilung gleichgesetzt.
Daneben erlauben sich die Autoren in diesem Kapitel einen Scherz: „Die für ein Grundeinkommenssystem benötigte Umverteilungsmaschinerie (…) wäre gigantisch“. Dabei stellen ausnahmslos alle mir bekannten Grundeinkommensmodelle gewaltige Bürokratieabbausysteme dar…
Immerhin einen wertvollen Impuls für die volkswirtschaftliche Diskussion – vor allem für, aber nicht nur über das Grundeinkommen – liefern die Autoren mit ihrer Einlassung auf Say’s Law, „Jedes Angebot schafft sich seine Nachfrage“. Sie nehmen damit zwar u. a. Anlauf auf dem Weg in die Autarkie-Diskussion, die als solche, wie gesagt, aus realwirtschaftlichen Gründen nicht überzeugt, haben aber einen Kritikpunkt, der in mehr als dieser einen Dimension wertvoll ist, da ihre Interpretation sich auch gegen die neoliberale Missinterpretation des „berühmten“ Gesetzes von Jean-Baptiste Say wendet, der zufolge „sich die Wirtschaftspolitik nur um gute Angebotsbedingungen bemühen müsse, damit die Wirtschaft floriere, weil sich die Nachfrage schon ganz von selbst einstelle“. Nach Flassbeck et al. ist das Gesetz so zu verstehen: „Niemand bietet am Markt etwas an, wenn er nicht die Absicht hat, mit dem durch sein Angebot erzielten Einkommen selbst Nachfrage zu entwickeln.“ Und weiter mit einer Spitze im Hinblick auf Autarkie und mit unnötigen Extremen um ein vermeintliches „Nichts“: „Jemand der auf Dauer nichts von anderen kaufen will, sondern lieber autark lebt, bietet anderen keine Waren und auch nicht seine Arbeitskraft zum Kauf an.“ Dies sei der zur neoliberalen Missinterpretation spiegelbildliche „Gedankenfehler“, man könne „ein gewisses Maß“ an Kaufkraft mit der Gießkanne verteilen, ohne dafür zu sorgen, dass zur Nachfrage ein „Angebot in gleicher Höhe“ bereitgestellt wird, schon gar kein „zu den Nachfragewünschen passendes. Denn so wenig es ausreicht, allein auf günstige Angebotsbedingungen zu setzen, um das Angebot zu pushen, ohne zugleich für günstige Nachfragebedingungen zu sorgen, so falsch ist es andersherum, einfach nur nachfragewirksames Einkommen zu verteilen, ohne sich um dessen güterwirtschaftliche Fundierung auf der Angebotsseite zu kümmern.“ Flassbeck et al. fürchten nun um die Geldwertstabilität, wenn das beim Tausch Geld gegen Ware stets im Wirtschaftskreislauf verbleibende Geld immer weniger von der mit den Gütern erkauften Lebenszeit der Arbeitskräfte als Arbeitszeit gegenübersteht, die zur Produktion der neu nachgefragten Güter eingesetzt werden könnte, da diese sich anderweitig, „autarker“ beschäftigen. Zwar liefern die Autoren mit der Tendenz zur Autarkie, also der Flucht aus der Geldwirtschaft, selbst ein spiegelbildlich ausgleichendes Ventil für diese Inflationsgefahr, da bislang am Markt nachgefragte Güter ohne Geld bereitgestellt werden, aber ein nicht zu leugnender „lag“ zwischen Nachfragekreation und Angebotsgeneration innerhalb der Wirtschaft sollte für Grundeinkommensbefürworter ein noch zu lösendes Problem darstellen.
In einer persönlichen Kommunikation zeigte sich der Autor des Buches „Die Herrschaft des Geldes“, Prof. Karl-Heinz Brodbeck, allerdings überzeugt, dass man angesichts des grundlegenden Grundeinkommensgedankens den innovativen Charakter des BGE noch weiter treiben solle, indem man alle Güter und Dienstleistungen des sozialen, kulturellen und politischen Teilhabeminimums gleich fernab des Marktes produzieren und nach realen Bedürfnissen verteilen möge, eben um Bedürfnisse unmittelbar zu befriedigen und die an den Bedürfnissen vorbeiführende Herrschaft des Geldes – die sich in einer gewissen Marktgläubigkeit Flassbecks widergespiegelt vorfindet – zu brechen. Diese Lösung klingt komischerweise auch im Buch „Irrweg Grundeinkommen“ an, wenn auf Seite 42 auf BGE-Grundlagen zurückgegriffen wird: „Die Grundeinkommensmodelle gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass auf Dauer ein ausreichendes Angebot an Gütern und Dienstleistungen sowohl für die Bezieher des Grundeinkommens als auch für die Bezieher von Erwerbseinkommen zur Verfügung steht.“ Normalerweise fasse ich all diese Einkommensbezieher unter dem Begriff „Menschen“ zusammen, aber vielleicht sollte man wirklich stärker differenzieren!
Fazit
Das Wirtschaftskonzept, das Flassbeck et al. aufstellen, hat mit der Idee der Grundeinkommensbefürworter viel gemein: Die Wirtschaft ist ein Mittel zum Zweck für die Gesamtgesellschaft und ausnahmslos alle Wirtschaftssubjekte brauchen für ihre Teilhabe das Tauschmittel Geld für den Marktzugang. Ob bedingungsloses Grundeinkommen oder Mindestlohn/Arbeitszeitverkürzung (oder die Trias aller drei Komponenten, wie sie bei der attac AG „Genug für alle“ ins Spiel gebracht wird), alle sprechen sich für eine staatlich unmittelbar oder mittelbar über Marktzugangsbedingungen individuell garantierte Grundverteilung aus und bilden eine hegemoniale Gegenbewegung gegen den neoliberalen Marktradikalismus. Warum wenden Flassbeck et al. sich so radikal gegen ihre MitstreiterInnen?
Aus diesem Grund wollte ich Flassbeck et al. einen angestrebten Anschein unterstellen, das Buch mit dem Titel „Irrweg Grundeinkommen“ als U-Boot für Anhänger des neoliberalen Wirtschaftsdogmas (soweit sie nicht eigene Grundeinkommensideen hegen) konzipiert zu haben, die eine Bestätigung ihrer abstrusen Ideen erwarten, beim Aufschlagen des Buches aber eine knallharte, wissenschaftlichen Standards genügende Analyse der Untauglichkeit neoliberaler Dogmen um die Ohren geschlagen bekommen würden. Leider ließ sich diese Unterstellung nicht halten, da die Autoren zu wenig Energie in ihre Auseinandersetzung mit dem Grundeinkommenskonzept investierten, das BGE nahezu nicht im Licht ihrer eigenen Analyse der „großen Umverteilung“ einzuordnen verstanden und vor allem mit dem Untertitel zu direkt die sozialempathische Ader von Lesern wie uns aufs Korn nahmen, die neoliberalen Zeitgenossen völlig fremd (geworden) ist. Dieser Untertitel sorgt leider dafür, dass solche potenziellen Leser das Buch wieder zurück ins Regal stellen.
Dabei liegt in der Analyse der „großen Umverteilung von unten nach oben“ die Stärke dieses Buches. Wo sonst bekommt man solchen Klartext zum Nachlesen (außer auf den NachDenkSeiten – und dort oft aus dem Munde Heiner Flassbecks): „Und damit ist Deutschland zweifellos der Hauptverursacher der Euro-Krise.“ (S. 134) „Tatsächlich haben aber die Teilnehmer an diesen Spielen große Summen verdient [verdient? nobody is perfect…; Anm. MB], haben also der Wirtschaft ohne Gegenleistung Einkommen entzogen und damit dieser Wirtschaft Schaden zugefügt.“ (S. 160 f) „Dass es mit [der Antistaat-Ideologie] gar gelungen ist, [in Gestalt der Schuldenbremse] eine extreme Einschränkung staatlicher Schuldenaufnahme (…) in die Verfassung zu schreiben, wird als Bankrotterklärung rationaler Wirtschaftspolitik in die Geschichte eingehen.“ (S. 162)
Zur Abwechselung auch etwas positiv Gewendetes: „Der berühmte Satz ’sozial ist, was Arbeit schafft‘ muss eben vollständig ausgehebelt werden, wenn man konsequent argumentiert. Man muss ihn umdrehen, so dass er heißt: ‚Was sozial ist, schafft Arbeit‘. Denn nur dann ist man in der Lage, dem neoklassischen Weltbild ein anderes, ein konsistentes Weltbild entgegenzusetzen.“ (S. 142) Auf diesen umfangreichsten Teil des Buches näher einzugehen, bedeutete aber, dass das Urteil tendenziell noch stärker in Richtung „Thema verfehlt“ ausfallen müsste.
Das zuletzt angesprochene alternative Weltbild ist zwar erfrischend neu, aber ich würde (auch) diesem nicht rückhaltlos zustimmen, da mit „Arbeit“ wieder einmal ausschließlich Erwerbsarbeit gemeint ist und somit (wie bei den Vorantreibern der „großen Umverteilung von unten nach oben“) ökonomistische Vorstellungen bedient werden. Das Zitat insgesamt macht jedoch deutlich, dass die politische Energie zur Umsetzung der von Flassbeck et al. in ihrem Buch „Irrweg Grundeinkommen“ bevorzugten Konzepte – als „Weltbild“ – keineswegs viel geringer ist im Vergleich zu den Anstrengungen, die nötig wären, eine modernisierte Wirtschaftskonformation Bedingungsloses Grundeinkommen zu installieren, wie die Autoren behaupten.
Zusammengefasst muss ich feststellen, dass mich das Buch „Irrweg Grundeinkommen. Die große Umverteilung von unten nach oben muss beendet werden“ enttäuscht. Als – auch kritisches – Buch zum Grundeinkommen versagt es, weil es sich nicht umfassend dem Thema widmet und selbst dann nicht hinreichend annähert, wo das BGE einmal zur Sprache kommt. Seine bei Weitem besten Seiten sind jene, auf denen es das Grundeinkommen komplett ausblendet – also das Thema verfehlt. Wäre das Buch mit „Stoppt die große Umverteilung von unten nach oben!“ ohne jede Berücksichtigung des BGE oder mit „Die Rolle von Say’s Law in der großen Umverteilung von unten nach oben mit kritischer Würdigung von Mindestlohn-, Arbeitszeitverkürzungs- und Grundeinkommensmodellen“ tituliert, mit einem entsprechenden Schwerpunkt versehen und die Themen auch in dieser Reihenfolge mit der vollen volkswirtschaftlichen Kompetenz der Autoren Flassbeck, Spiecker, Meinhardt und Vesper abgearbeitet worden, würde mein Urteil anders ausfallen. In einer solchen Form hätte das Buch auch viel besser in das ansonsten ausgezeichnete Repertoire des Westend Verlages gepasst.
Anmerkungen
Die Implikationen der heraufziehenden Wissensgesellschaft (in Gestalt des freien Downloads aller digital publizierten Werke geistiger Schöpfung) für Autoren werden von den Autoren des vorliegenden Buches komplett ignoriert. Dabei wird das bedingungslose Grundeinkommen als Übergangslösung für den Zeitraum diskutiert, der zu überbrücken ist, bis eine leistungs- und/oder erfolgsorientierte Bezahlung von Autorinnen und Autoren unabhängig von der individuellen Nutzung ihrer Werke gefunden (und auch in allen anderen Funktionen der Wirtschaft gewährleistet) ist. Daran, dass Flassbeck et al. ihr Buch „Irrweg Grundeinkommen“ nicht parallel unter einer „Creative Commons“-Lizenz als freien Download anbieten, mag man ablesen, dass sie sich noch nicht intensiv mit diesem Thema auseinandergesetzt haben dürften.
Als Lektor möchte ich festhalten, dass dieses Buch für gegenwärtige Verhältnisse – bis auf wenige Kleinigkeiten – sehr gut lektoriert wurde, was an der wechselseitigen Kontrolle der Autoren durch ihre jeweiligen Ko-Autoren liegen mag. Beispielsweise hätte man dem „Umweltschutz im allgemeinen“ ein großes „A“ gegönnt; „im großen und ganzen“ wurden die Kapitale gleich doppelt gekappt; die „Balance zwischen Macht und Markt“ (S. 209) könnte man wegen der von Flassbeck et al. gerade thematisierten Macht im Markt als Stilblüte werten (der sogleich ein Kommafehler folgt); die „mutmaßliche“ Neigung zu Investitionen auf den Finanzmärkten lässt sich bestimmt „sicher“ untermauern (Ich nenne nur die schon sprichwörtliche „Siemens-Bank mit angeschlossener Elektroabteilung“!); und in Tabelle 3, die ein „unterstes“ und ein „oberstes Dezil“ aus dem Text referenzieren soll, kommen auf verwirrende Weise das unterste 1. Dezil ganz oben und das oberste 10. Dezil ganz unten zu liegen – mit einer invertiert senkrechten oder einer waagrechten Tabelle hätte diese Verwirrung leicht vermieden werden können. Inhaltliche Fehler (im Sinne der Argumentationsführung der Autoren), Namensfehler, Endnotenzuordnungsfehler o. Ä. fielen mir (in meiner Rolle als rezensierender Leser) überhaupt nicht auf. Die meisten Endnoten hätte ich mir als Fußnoten gewünscht, aber das mag einer Verlagsentscheidung geschuldet sein. Darum: Respekt!
Bibliographische Angaben
Heiner Flassbeck, Friederike Spiecker, Volker Meinhardt, Dieter Vesper: Irrweg Grundeinkommen. Die große Umverteilung von unten nach oben muss beendet werden
224 Seiten, 13,5 x 21,5 cm
ISBN 978-3-86489-006-2
EUR 16.99 [D] / EUR 17.50 [A] / SFR 24.90 [CH]
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